Kunst im Fluss III
Rede zur Eröffnung am 10. Mai 2025
Claudia Spinelli, Kunsthistorikerin, Kuratorin, Autorin
Es gibt Orte, die kennt man nur als Ansichten. Jahrelang habe ich bei der Einfahrt nach Luzern aus dem Zugsfenster auf das Reussufer unter der Autobahn geblickt. Obwohl vom Verkehr umtost, evoziert diese Ansicht die Vorstellung von Natur und Idylle. Ein Nachhall vom dem, was da einmal war, bevor die Autobahn gebaut wurde. Betonpfeiler direkt im Wasser und meistens menschenleer: Die Bauwut hat eine interessante und vor allem auch Fantasie anregende Nische produziert. Kommen Leute hierher, um im glasklaren Wasser zu schwimmen? Gibt es Fische? Wasservögel, die nisten?
Als ich letzte Woche vor Ort war, fühlte ich mich ein klein wenig enttäuscht. Der Ort unter der Autobahnbrücke sieht nur am Flussufer hübsch aus, dahinter ist es zu kahl. Umso spannender war dafür der Blickwechsel: Von hier aus sind die Züge zu sehen, die einfahren in Luzern. Von hier aus kann ich gewissermassen mich selbst beobachten bei dem, was ich jahrelang tat. Das ist fast so etwas wie der Blick in einen Spiegel.
Kunst im öffentlichen Raum. Es ist interessant, dass dieser Ort nicht kompatibel ist mit dem, was ich als allererstes mit dem Begriff ‚Kunst im öffentlichen Raum‘ assoziiere. Denn ein Ort, der nur von ein paar E-Bikefahrer:innen und wenigen Fussgänger:innen gequert wir, ist eher un- oder unterdefiniert, als dass er öffentlich wäre. Mit Öffentlichkeit assoziieren wir normalerweise so etwas wie einen Marktplatz, einen Ort also, wo das gemeinschaftliche Leben stattfindet. Wo man einander trifft, wo geredet und gehandelt wird. Hier aber haben wir die Nische. Frequentiert höchstens von Menschen, die von der Mitte der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Solche Räume, die alles sein können oder nichts, nennt man liminale Räume. Sie sind unterdefiniert und deshalb auch wandlungsfähig, bieten Platz für die verschiedensten Ansätze und Ideen. Unterschiedlichste Blickrichtungen und auch Blickwechsel. Entsprechend sind die drei eingeladenen Kunstschaffenden ihre Aufgabe sehr unterschiedlich angegangen:
Barbara Hennig Marques setzt bei einem zentralen Charakteristikum des Ortes an, bei seiner Abgeschiedenheit, und thematisiert aus sozialer Perspektive. Ihr künstlerischer Beitrag ist ein Schriftzug, den sie unter die Autobahnbrücke hängte. Er setzt Afra, der Schutzpatronin der Prostituierten ein dezent rot leuchtendes Denkmal. Interessanterweise ist der Schriftzug vom Zug aus, der auf der anderen Flussseite vorbeifährt, nicht zu lesen. Er ist in entgegengesetzter Richtung auf den Standplatz des Strassenstrichs gerichtet. Dieser befindet sich versteckt auf der anderen Seite der Autobahn und ist nur durch einen kleinen Tunnel von uns getrennt. Damit hievt die Künstlerin einen verdrängten Gesellschaftsbereich auf die Bühne. Deren Publikum, das sagt sie mit der Ausrichtung aus, sind allerdings nicht die Leute, die aus dem Zug zu uns hinüberblicken, sondern vor allen anderen die Sexarbeiterinnen selbst. Denn es ist nicht Hennigs Absicht, moralisierend auf irgendeinen gesellschaftlichen Missstand hinzuweisen oder den Sexarbeiterinnen Mitgefühl (das immer herablassend wäre) zukommen zu lassen. Ihre Setzung ist vielmehr vom Bemühen um Wertfreiheit und Akzeptanz geprägt. Barbara Hennig Marques begegnet den Frauen am Rand der Gesellschaft mit Freundlichkeit und stellt ihnen mit der Schutzpatronin Afra eine schützende Kraft zur Seite. Auch wenn es fraglich ist, ob die Sexarbeiterinnen den Kunstort überhaupt aufsuchen werden, hat Barbara Hennig Marques mit ihrer Arbeit eine Form gefunden, die dem komplexen Thema in einer sehr schönen Art gerecht wird.
Jo Achermann packt und ergänzt den Ort unter der Autobahnbrücke mit einer architektonisch anmutenden Setzung aus Holz. Die schmalen Latten, die er in Reih und Glied unter die Brücke gehängt hat, betonen – wie ein Paravent oder ein Vorhang – die verschiedenen Zonen, die an diesem Ort aufeinandertreffen: Es gibt den eher düsteren, vegetationslosen Bereich unter der Autobahnbrücke, den viel lichteren und freundlicheren Bereich am Flussufer, wo sogar ein paar Büsche wachsen. Dann kommt der Fluss und – auf der anderen Seite – der Xylophonweg, die Gleise der Bahn und hinter der Strasse für die Autos die Stützmauer aus Beton. Der Rhythmus der Latten korrespondiert mit dem Rhythmus der Mauerstützen, bringt sie ins Bewusstsein und macht sie überhaupt erst interessant. Jo Achermanns Setzung ist auch vom Zug aus sehr gut zu sehen. Schon bei leichtem Wind beginnt sie sich ganz leicht zu bewegen. Die Latten schlagen aneinander und erzeugen einen ganz eigenen Klang, einen Hauch von Unordnung, der die schön geordneten Bereiche, ihr sauberes Nebeneinander ein klein wenig durcheinanderbringt.
Im Kontext einer von Absperrungen und Zugängen geprägten Autobahnlandschaft könnte man die Setzung von Lang/Baumann für ein Stück Architektur halten. Die kleine Eisentreppe, die hinunter zu einer Tür führt, suggeriert eine Funktionalität, die schnell zweifelhaft wirkt. Ist der Abgang nicht etwas gar schmal? Und die Tür viel zu klein? Sie passt für Kinder, aber sicher nicht für einen Arbeiter des ASTRA (Bundesamt für Strassen), der aus was für einem Grund auch immer, hier in die Tiefe absteigen könnte. Für wen also ist diese kleine Treppe gedacht? Für eine Fee, ein Wesen der Unterwelt, eine Familie von Fröschen? Typisch Lang/Baumann bleiben wir mit all unseren Vermutungen in einer produktiven Grauzone hängen. Unsere Fantasie ist angeregt und kreist um mögliche, unsichtbare Bewohner:innen dieses eigenartigen Ortes, der vielleicht gar nicht so vergessen ist, wie wir zunächst meinten.
